Typisch „didaktisch“

Identifizierbar wird eine Disziplin spätestens an der Stelle, an der ihre Wissenschaftler dogmatisch werden. Sie kennen das aus wissenschaftlichen Streitgesprächen zu Grundsatzfragen: Irgendwann kommt man im Gespräch an einen Punkt, an dem man selbst oder das Gegenüber (bewusst oder unbewusst) eine Setzung vornimmt, die man als „unmittelbar evident“, „empirisch gegeben“, „nicht weiter zu hinterfragen“ o.Ä. qualifiziert. Meistens ist das der Punkt, um den das Gespräch sich dann noch zweimal dreht, bevor die Beteiligten kopfschüttelnd auseinandergehen. Dann befindet man sich in einer Situation, in der unausgesprochene basale Prämissen, sog. „tacit underlying assumptions“ einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers (als Vertreter/in des eigenen Fachs) ins Spiel kommen — oder genauer: an dem sie absolut gesetzt werden. Eben das ist es, meine ich, was ein Dogma im Sinne einer normativen Leitorientierung ausmacht: Dogmatisch ist jemand, der nicht willens oder (aus welchen Gründen auch immer) nicht in der Lage ist, die eigenen (wissenschaftlichen) Prämissen weiter zu hinterfragen.

Versteht man ein Dogma und dogmatisches Verhalten in dieser Weise, erscheint die pejorative Konnotation, die in dem Begriff mitschwingt, gar nicht mehr so gravierend. So besehen, finde ich, Dogmen müssen für uns als Wissenschaftler nichts von vornherein Schlechtes sein. Ganz ursprünglich hatte das Wort im Übrigen ja auch gar nicht diese von uns heute assoziierte negative Bedeutung. Der griechische Terminus dógma meinte ursprünglich einfach „Meinung“, „Überzeugung“ oder im weiteren Sinn auch „Lehre“ (wie bspw. in der Wendung ágrapha dógmata, die auf den ungeschriebenen, nur mündlich vermittelten Teil der Platonischen Philosophie verweist) — soviel zur Etymologie. Das Sympathische und zugleich das Vermaledeite an den Bildungswissenschaften ist aus meiner Sicht, dass sich einem bei den tiefer gehenden Diskussionen häufig der Eindruck aufdrängt, das Dogma bestehe hier in der Vermeidung von Konflikten und damit in der Vermeidung von Differenz — in dem Sinn, dass man auch mal auseinandergehen kann, ohne am Ende einen Konsens erreicht zu haben und alle einer Meinung sind. Ein Merkmal für (schlechte) Didaktik ist meiner Meinung nach, wenn diese Differenzvermeidung dann in ein Unterrichtskonzept eingebunden wird.

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, Dogmen können im Gegensatz zu so einer harmonisch-idealistischen Verklärung für eine wissenschaftliche Positionierung ziemlich hilfreich sein: wenn wir alles immer weiter hinterfragen, ohne uns auf Leitsätze festzulegen, die wir eben nicht weiter in Frage stellen, landen wir in einem Skeptizismus — oder zumindest bei einer relativistischen Grundhaltung (an der festzuhalten freilich ebenfalls wieder „dogmatisch“ sein kann — das ist wohl mit dem sog. „Postmodernismus“ passiert)… Um das zu vermeiden (denn spätestens dann wird’s aus meiner Sicht wirklich unwissenschaftlich), kann es helfen, sich zu einem Dogma zu bekennen. (Weitere etymologische Fußnote: Das Wort „Professor“ leitet sich eben von dieser Haltung, sich zu etwas zu bekennen, ab…)

Die guten wissenschaftlichen Fachgespräche entstehen meiner Erfahrung nach besonders dann, wenn die Beteiligten klar Stellung beziehen und sich auch persönlich anhand ihrer Grundüberzeugungen zum Diskussionsgegenstand positionieren. In seltenen Fällen kommt man sogar bis an die Grundüberzeugungen, die man aus einer fachlich-wissenschaftlichen Perspektive vielleicht auch gar nicht weiter hinterfragen will (was nachvollziehbar ist, denn dann würde man ja das eigene Feld verlassen und sich auf eine eher philosophische oder wissenschaftstheoretische Grundsatzdiskussion einlassen, die man aus einer fachlichen Position heraus so nicht führen kann). Das ist das Grundproblem einer Wissenschaftsforschung bzw. einer „Wissenschaft zweiter Ordnung“ (Second Order Science Research).

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich argumentiere hier nicht für Dogmatismus in dem Sinn, dass man sich mit diesen Leitsätzen oder Leitüberzeugungen jeglicher Kritik verschließt. Ich argumentiere dafür, sich als Wissenschaftler selbstbewusst zu den eigenen Dogmen (im Sinne nicht weiter zu hinterfragender fachlicher Überzeugungen) zu bekennen. Das heißt: eine reflexive Position zu ihnen einzunehmen, sie sorgfältig zu prüfen und eben in einem Gespräch auch persönlich (so lange man das mit rationalen Gründen kann) zu vertreten. Das ist aus meiner Perspektive genau das Gegenteil dazu, sich kritiklos zu den eigenen Leitüberzeugungen zu verhalten und sie etwa einzusetzen, um einen Diskurs abzubrechen. Man könnte das an Klafkis (2007) Konzept einer kritischen Haltung anschließen…

Auf der dghd-Jahrestagung 2017 in Köln entstand gestern Nachmittag in unserer Diskurswerkstatt etwas, das ich in den Bildungswissenschaften leider bisher extrem selten erlebt habe: ein echtes Streitgespräch, in dem es aus meiner Sicht sogar „ans Eingemachte“ ging, weil um Grundüberzeugungen gestritten wurde. Beteiligt waren neben vielen anderen (zeitweise waren wir 20 Personen, die sich um den kleinen Tisch drängten) noch Ludwig Huber, Gabi Reinmann, Klaus Peter Wild und Rüdiger Rhein.

Anlass war das Konzept des Scholarship of Teaching and Learning (SoTL), an das im Anschluss an einen Impulsvortrag von Ludwig Huber Fragen der Wissenschaftsdidaktik gestellt wurden. Ich werde hier in Kürze noch in einem separaten Blogbeitrag berichten, was Gegenstand der Auseinandersetzung war und worüber wir inhaltlich gestritten haben. Was ich hier mit diesem Beitrag zunächst festhalten wollte: Ich glaube, dass es uns als Fachdisziplin (aus identitätskonstitutiven Gründen) unheimlich gut tut, solche Auseinandersetzungen innerhalb der Hochschuldidaktik zu führen. Wir haben in Hamburg mit unserer Ringvorlesungsreihe und unserem HUL-Forschungskolloquium oder auch unserer Forschungstagung Wissenschaft bildet. angefangen, erste Foren für solche fachlichen Diskurse einzurichten — das sind alles offene Formate, in die man sich jederzeit einklinken kann! (Wer Interesse hat, kann sich dazu gern an mich wenden.)

Extrem schade fand ich, dass die Diskussion in der Diskurswerkstatt eigentlich an der spannendsten Stelle abgebrochen wurde, um — in geradezu plandeterministischer Manier — den organisatorischen Rahmen einzuhalten und das Format „geordnet“ im Plenum abzuschließen. Für mich hat das auf performative Weise einen Grundkonflikt abgebildet, der vielleicht symptomatisch für unser Fach ist: wir wollen als Didaktiker natürlich ein Konzept applizieren, andererseits aber auch (ein bisschen) freien und offenen Diskurs zulassen, in dem man auch zu neuen (nicht planbaren) Ergebnissen kommen kann. Eigentlich ein spannungsvoller Widerspruch, der gestern leider aber (und das erlebe ich häufiger in „didaktischen“ Settings) vorzeitig in Richtung „Konzept“ aufgelöst wurde.

Vielleicht ist es aus einer Lernperspektive heraus betrachtet auch gar nicht schlecht, aus einem Diskurs auf so unbefriedigende Weise herauszugehen, anstatt ihn zumindest klärend miteinander auflösen zu können: So denkt man im Anschluss ja eher noch mal weiter und versucht, das für sich irgendwie abzuschließen. Also vielleicht sogar ein Beispiel dafür, wie eine ganz produktive (wenn auch hier nicht-intendierte) Art der Irritation aus einer didaktischen Überplanung folgen kann?

Jedenfalls bräuchte es — so meine Grundüberzeugung — mehr solcher Streitgespräche in der Hochschuldidaktik und mehr Arbeit an unaufgelösten (bzw. vielleicht auch unauflösbaren?) fachlichen Konflikten, die auch mal stehen bleiben können, ohne alles am Ende in einem Bestreben um Gleichheit, Konsens oder harmonische Vergemeinschaftung zu egalisieren.

Literatur

  • Breinbauer, I. M. (2011). Philosophische Methoden in der Bildungswissenschaft. Teil II: Kritische Methoden, Universität Wien.
  • Huber, L. (1983). Hochschuldidaktik als Theorie der Bildung und Ausbildung. In L. Huber (Hrsg.), Ausbildung und Sozialisation in der Hochschule (Enzyklopädie Erziehungswissenschaft: Handbuch und Lexikon der Erziehung, Bd. 10, S. 114-138). Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Klafki, W. (2007). Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme. In  Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6., neu ausgestattete Aufl., erster Teil, zweite Studie, S. 43-81). Weinheim: Beltz.
  • Knape, J. (1998). Zwangloser Zwang: Der Persuasions-Prozeß als Grundlage sozialer Bindung. In G. Ueding & T. Vogel (Eds.), Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit (pp. 54–69). Tübingen: Attempto.
  • Szlezák, T. A. (1993). Zur üblichen Abneigung gegen die agrapha dogmata. Méthexis, 6, 155-174.

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