„Agile Didaktik“ als kreatives Handeln?

In einem Beitrag auf ihrem Blog hat Gabi Reinmann heut früh ein Buch von Christof Arn (Hochschule Luzern) vorgestellt: Es geht um „agile Didaktik“ — das interessiert mich sehr und Arns Buch werde ich mir mal genauer ansehen! 🙂 Was ist mit diesem Schlagwort gemeint?

Im Anschluss an empirische Studien leitet Arn die These ab, dass besonders lernförderliche Lehrende in ihrem didaktischen Handeln in der Situation viel spontaner, kreativer und eben agiler operieren als andere:

„Entscheidend ist, dass diese Fachkräfte […] dafür offen, ja daran interessiert sind, mitten im Lehren wahrzunehmen, was bei den Lernenden passiert. Diese Lehrenden sind zweitens fähig, aus dem Stand heraus auf das zu reagieren, was bei den Lernenden passiert. Das ist »Didaktik, die aus echter Interaktion erst entsteht«“ (Arn, 2016, S. 9).

Die Unterscheidung von „situativer Didaktik“ gegenüber einer „Plandidaktik“ erinnert mich ein wenig an eine Unterscheidung, die ich aus der soziologischen Handlungstheorie kenne: Da unterscheidet man häufig Handlungspläne, die im Vorlauf kalkulierte und fixierte Handlungsannahmen und -ziele enthalten, von der eigentlichen Handlungsausführung:

Planen kann man einiges im Vorlauf, aber das situative Handeln ist dann doch z.T. erheblich bestimmt von reaktivem Verhalten, „Nachjustierungen“ oder operationalen Adaptationen angesichts sich ändernder Verhältnisse (z. B. aufkommende zusätzliche Widerstandsfaktoren): Thomas Kron formuliert das so:

„Jeder Widerstand erzeugt eine neue Situation, in der der Horizont von Handlungsmöglichkeiten ebenso neu erschlossen werden muss wie die genannten experimentellen Verknüpfungen zwischen Handlungsimpulsen und Situationsgegebenheiten“ (Kron, 2009, S. 137).

Der ‚experimentelle‘ Aspekt zielt hier in einem handlungstheoretischen Sinn auf ein systematisches Erproben möglicher Lösungsverfahren zum Abbau eben solcher nicht-antizipierter „Widerstände“. Ein anderer Soziologe, Richard Münch, hat in seiner Theorie eine ganz ähnliche Beschreibung des „situativen“ Handelns:

„Es ist ein Handeln, das sich fortlaufend erneuert, indem es die leitenden Antriebe und Wünsche in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu korrigieren versteht, neue Handlungsmöglichkeiten eruiert, Ziele im Handlungsprozess selbst erst erfasst, setzt und wieder revidiert“ (Münch, 2003, S. 332).

Dieses spontane Moment des situativen Handelns betont auch Hans Joas. Seine Erläuterung liest sich ebenfalls so, als würde er in die gleiche Richtung argumentieren: „Jede Situation enthält […] einen Horizont von Möglichkeiten, der in der Krise des Handelns neu erschlossen werden muß. Es werden Hypothesen aufgestellt: Vermutungen über neue Brücken zwischen Handlungsimpulsen und Situationsgegebenheiten“ (Joas, 1996, S. 196).

Das hat natürlich einen Grund… 🙂 hinter allen drei Zitaten steckt eine pragmatische Handlungstheorie. John Dewey ist mit seiner Theorie „kreativer Intelligenz“ (bspw. Dewey 1917a) hier ein interessanter Bezugstheoretiker: Mit diesem Konzept beschreibt Dewey eine kognitive Leistung, die er dem mechanisch-instrumentellen Routinehandeln gegenüberstellt. ‚Intelligentes‘ Verhalten besteht für Dewey darin, reflektierte Entscheidungen im Voraus einer Handlung zu planen; ‚kreatives‘ Verhalten zielt dagegen auf ein aktiv an einer konkreten Situation ausgerichtetes Problemlösungshandeln:

„As a matter of fact, the pragmatic theory of intelligence means that the function of mind is to project new and more complex ends – to free experience from routine and from caprices. […] Intelligence as intelligence is inherently forward-looking […]. A pragmatic intelligence is a creative intelligence, not a routine mechanic. […] [Creative intelligence] frees action from a mechanically instrumental character“ (Dewey, 1917b, s. 63 f.).

Das ist jetzt natürlich auch für die rhetorische Handlungstheorie hochinteressant… ich hatte vor einiger Zeit schon mal vorgeschlagen (Schmohl, 2013), dort im Anschluss an den Pragmatismus ebenfalls Routinesituationen (d.h. Situationen, für die ein strategisches Handlungsrepertoire zur Verfügung steht) von ‚problematischen‘ Situationen zu unterscheiden (d.h. Situationen, in denen die strategisch antizipierte Handlungsweise aufgrund nicht-intendierter Widerstände adaptiert werden muss, um kommunikative Handlungsmacht zurückzugewinnen oder zu sichern). Zur Lösung derartiger ‚problematischer‘ Situationen ist eine spontane Adaptation noch im Prozess des Handelns notwendig.

Was Gabi Reinmann jetzt über Christof Arns Ansatz schreibt, hatte mich jetzt stark an diese Unterscheidung erinnert. Ich hab das eben noch einmal nachgelesen: Kreatives Problemlösungshandeln ist bspw. bei Joas etwas, das jedem Handeln zukommt – für ihn ist es das Kernmerkmal des Handelns überhaupt. Das heißt in seiner Terminologie: jedes Handeln, das auf Problemlösung zielt, ist kreativ. Hier ein längeres Zitat von ihm, mit dem das schön deutlich wird:

„Die Welt erweist sich als Quell [von] Erschütterungen unreflektierter Erwartungen; die Handlungsroutinen prallen an der Widerständigkeit der Welt ab. […] Aus dieser Phase heraus führt nur eine Rekonstruktion des unterbrochenen Zusammenhangs. Die Wahrnehmung muß neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen; die Handlung muß an anderen Punkten der Welt ansetzen oder sich selbst umstrukturieren. Diese Rekonstruktion ist eine kreative Leistung des Handelnden. Gelingt es, durch die veränderte Wahrnehmung die Handlung umzuorientieren und damit wieder fortzufahren, dann ist etwas neues in die Welt gekommen: eine neue Handlungsweise […] Das heißt zugleich auch, daß Kreativität hier als Leistung innerhalb von Situationen, die eine Lösung fordern, gesehen wird, und nicht als ungezwungene Hervorbringung von neuem ohne konstitutiven Hintergrund in unreflektierten Gewohnheiten“ (Joas, 1996, S. 90).

Ich denke, es könnte durchaus vielversprechend sein, sich mit diesem Diskurs aus den Sozialwissenschaften näher auseinanderzusetzen: Könnte bedeuten, didaktisches Handeln also z.B. als eine Form des vorab geplanten Handelns zu begreifen, das in der Situation dann in ein kreatives Handeln übergeht – kreativ in diesem Sinn, wie ihn Joas vorschlägt: eben nicht als bloße „Beseitigung von Hindernissen auf diesen vorgeschriebenen Wegen“, sondern als fallweise Anpassung an das, was eine konkrete Lehr-/Lernsituation gerade erfordert?

Literatur

  • Arn, C. (2016). Agile Hochschuldidaktik. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Dewey, J. (1917a). Creative Intelligence. Essays in the Pragmatic Attitude. New York: H. Holt.
  • Dewey, J. (1917b). The Need for a Recovery of Philosophy. In: Ders.: Creative intelligence. Essays in the Pragmatic Attitude. New York: H. Holt, S. 3–69.
  • Joas, H. (1996). Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Kron, T. (2009). Zeitgenössische soziologische Theorien. Die zentralen Theorien aus Deutschland. Wiesbaden: Springer.
  • Münch, R. (2003). Die Kreativität des Handelns. In: Richard Münch: Handlungstheorie (Soziologische Theorie, 2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 329–346.
  • Schmohl, T. (2013). Kreativität im Fokus der Rhetorik. In J. Knape (Hrsg.), Kreativität. Kommunikation – Wissenschaft – Künste (Neue Rhetorik, Bd. 6, S. 83-106). Berlin: Weidler.

One thought on “„Agile Didaktik“ als kreatives Handeln?

  • Werkstatt für Wissenschaft | Tobias Schmohl
    9. Januar 2017 at 5:57

    […] das Gefühl, dass dieses stark „bedarfsorientierte“ Vorgehen (im Sinne einer „agilen Didaktik„) für diese Veranstaltungstypen viel wirksamer und sinnvoller ist, als wenn ich ein starres […]

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