10 Jahre virtuell

An der Universität Tübingen gebe ich kommende Woche eine Fortbildung für das didaktische Personal des Schlüsselqualifikationsprojekts „Virtuelle Rhetorik“. Wer mich etwas länger kennt, weiß, dass ich eine ganze Weile in diesem Projekt gearbeitet hab, daher hatte ich mich unheimlich gefreut, als ich im September von meinem Nachfolger angefragt wurde — und natürlich habe ich gleich zugesagt.

Mit einigem Erschrecken ist mir dann beim Vorbereiten der Unterlagen aufgefallen, dass ich jetzt schon über 10 Jahre mit der „VR“ zu tun habe. Angefangen hat alles im Sommersemester 2006. Ich hatte als Germanistik-Student aus Interesse an einem experimentellen Pilotseminar von Georg Braungart, Dietmar Till und Julia Gassner teilgenommen, in dem das erste Konzept vorgestellt, erprobt und kritisch evaluiert werden sollte.

Das war ein „Projektseminar“, für das es damals keine Anrechnungsmöglichkeit in den Studiengängen gab, also eigentlich etwas, das man zwar studieren, aber nicht formal für’s Studium „verwerten“ konnte. Entsprechend gering war die Teilnehmerzahl — wir saßen mit gerade mal einem Dutzend (allerdings sehr interessierten) Leuten in einem der kleinsten Veranstaltungsräume, die der Brechtbau zu bieten hat, um speziell das Modul „Schreibkompetenz“ zu evaluieren.

Im gleichen Semester hatte ich mich auch für das Modul „Redekompetenz“ angemeldet, das schon den Regelbetrieb aufgenommen hatte. Ich hab auch beides parallel absolviert, obwohl es unheimlich aufwendig war (ein Modul umfasst 240 Lehreinheiten). Ich weiß noch, dass ich beim Besprechen und Evaluieren der Übungen einer der kritischsten Teilnehmer war. Umso verblüffter war ich, als ich nach diesem Semester gefragt wurde, ob ich mir nicht vorstellen könne, als Tutor im Projekt mitzuarbeiten.

Das war schon komisch: Plötzlich ging es nicht mehr darum, „nur“ genau zu analysieren und auf Missstände hinzuweisen, wenn bspw. zu einem Text eines Kommilitonen ein Feedback erstellt werden soll: Ich musste überlegen, was ich konkret vorschlagen kann, damit der Text prägnanter wird oder was man ändern kann, damit die Aussage besser auf den Punkt gebracht wird. Dieser Wechsel von einem rezeptiv-kritischen in einen produktiv-gestaltenden Modus war vielleicht eines der wichtigsten Schlüsselerlebnisse in meinem Studium. In dem Projekt habe ich für die gesamten restlichen 8 Semester meines Studiums als Tutor mitgearbeitet. Als ich dann gerade meine letzten Scheine abgegeben und mein Magisterarbeitsthema festgelegt hatte, bekam ich einen Wink, dass die Modulleitung der „Schreibkompetenz“ in ein paar Wochen frei würde und ob ich mich nicht bewerben wolle. Natürlich hab ich das gemacht — mit der Konsequenz, dass ich zum Beginn des Wintersemesters 2010/11 in dem Team, in dem ich bis dahin doch immer wieder die Rolle der Fundamentalopposition gespielt hatte, plötzlich die Leitungsrolle innehatte und dafür „den Kopf hinhalten musste“, wie das Modul lief. Zum Glück hatte ich ein richtig gutes Verhältnis zu den anderen Tutoren und wir hatten auch davor schon extrem flache Hierarchien und einen sehr freundschaftlich-kollegialen Umgang miteinander, sodass wir in der Zusammenarbeit fast wie davor auch weitermachen konnten (nur mit etwas neu verteilten Aufgaben — besonders mehr koordinativen und eben leitenden Funktionen auf meiner Seite, aber das war für alle Beteiligten wohl „okay“). Wie man ein Team leitet, wusste ich natürlich nicht (wie das eben so an den Unis üblich ist); abgesehen davon, dass es natürlich ein paar Vorbilder gab, an denen man sich (wenn man wollte) orientieren konnte.

Die Schwierigkeit lag für mich allerdings gar nicht so sehr in der Leitungsrolle oder in der Verantwortung, die damit einherging, sondern eher in den neuen Möglichkeiten: So, wie ich vier Jahre davor von kritisch-analytischem Feedback auf Peer-Ebene zu gestaltend-beratendem tutoriellen Feedback umschalten musste, ging es jetzt mit den neuen Gestaltungsspielräumen auch darum, konkrete konzeptionelle, „inhaltliche“ oder technische Entscheidungen zu treffen, damit die didaktischen Ziele besser erreicht werden. Diese Entscheidungen zu identifizieren und spezifische Maßnahmen zu finden, die auch wirklich greifen, ist dann doch gar nicht so einfach: das merkt man wohl erst, wenn man aus einer nur-analytischen Haltung rausgenommen wird und echte Verantwortung übertragen bekommt.

In den kommenden Semestern sind wir aus meiner Sicht ganz schön vorangekommen und haben nicht nur das Modul „mit Leben gefüllt“, sondern auch das bestehende Konzept gemeinsam immer weiter didaktisch, technisch und konzeptionell ausgebaut und optimiert. Beim Identifizieren der Maßnahmen hatte sich bald auch eine zielgerichtete Evaluation als probates Mittel erwiesen. Erst mit Abschluss meiner Dissertation im Jahr 2014 bin ich dann schweren Herzens aus dem Projekt ausgestiegen und zunächst auf eine Stelle im „Third Space“ gewechselt, bevor mich Gabi Reinmann hierher nach Hamburg geholt hat, wo ich jetzt ebenfalls wieder didaktisch und konzeptionell arbeiten und gleichzeitig meine Forschung in diese Richtung entwickeln kann.

Die Achse nach Tübingen und die Verbindung zur Virtuellen Rhetorik reißt für mich auch trotz der großen Entfernung nach Hamburg nicht ab. Ich freue mich schon richtig darauf, bald ein paar neue Gesichter kennen zu lernen und von den neuesten Entwicklungen zu hören.

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