Subjektives Schreiben

Im Frühjahr 2019 werde ich eine Ausgabe des Journals der Schreibberatung (JoSch) bei wbv Publikation herausgeben. Thema ist Autoethnografie und subjektives Schreiben. Der Call for Papers (s.u.) richtet sich dabei vorrangig an die schreibdidaktische Community, ist aber recht offen gehalten. Er erscheint in der aktuellen Ausgabe Nr. 16 und wird zusätzlich noch über die üblichen Kanäle gestreut,… Da die Zeit bis zur Deadline (06.05.2019) aber aus meiner Sicht recht knapp ist, wollte ich ihn hier schon einmal vorab verteilen. Einreichungen sind ab sofort möglich. Nachfolgend versuche ich, das Thema ergänzend zum Call etwas zu einzuordnen…

Objektivität in der Wissenschaft?

Selbstreflexion, Introspektion und Selbstgespräch sind im Kontext akademischen Schreibens verruchte Konzepte. Gleichzeitig ist die Subjektivität von Forschenden ein relevanter Faktor für die Darstellung und Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Neben anderen hat beispielsweise Reichertz (2015) erst kürzlich kritisch hinterfragt, „ob es 1. tatsächlich möglich ist und ob es 2. sinnvoll ist, die Subjektivität der Forschenden mithilfe methodischer Vorkehrungen auszumerzen“. Für Reichertz sind genuin wissenschaftliche Vorgänge wie etwa das Entwickeln einer Fragestellung, das Darstellen einer Hypothese, die Datenerhebung, Datenauswertung oder die Theoriebildung keinesfalls unabhängig von der Subjektivität der Forschenden.

Wenn es um das Verfassen von Forschungstexten geht, folgen die meisten eingefleischten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber ungeachtet dessen nach wie vor einer kritisch-rationalen Grundhaltung, wie sie beispielsweise Popper formuliert hat:

[Scientific knowledge] is totally independent of anybody’s claim to know; it is also independent of anybody’s belief, or disposition to assent; or to assert, or to act. Knowledge in the objective sense is knowledge without a knower: it is knowledge without a knowing subject (Popper, 1972, S. 109).

Aber trotz allem Bemühen um Objektivität stellen sich auch mehr und mehr naturwissenschaftliche Forschende die Frage, welchen Faktor die Personen einnehmen, die mit Forschungsdaten zu tun haben: sie erheben, auswerten und interpretieren: Beeinflusst deren Subjektivität die schriftliche Aufbereitung von Forschungsergebnissen nicht zumindest zum Teil immer mit? Da Forschende eben auch Personen sind, ist ihr Handeln grundlegend auch von persönlichen Interessen, Erfahrungen, Denkstilen, Wahrnehmungsmustern und Beurteilungsmaßstäben mitbestimmt (vgl. Agar, 1980, 48 f.; Garz, 2012, S. 29). Dieser These folgend sind Wissenschaftsphilosophen wie Putnam sogar zu dem Schluss gekommen:

everything we say about an object is of the form: it is such as to affect us in such-and-such a way. Nothing at all we say about any object describes the object as it is ‚in itself‘, independently of its effect on us (Putnam, 1981, S. 61).

Verschränkung von Erleben und Erkennen

Aus diesen wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen und der Frage, wie man sich als wissenschaftlicher Akteur selbst dazu positioniert, ergeben sich weitreichende Folgen dafür, wie wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Schreiben Forschungsergebnisse darstellen oder in der Schreibdidaktik Forschende beraten können. Denn wenn das Subjektive (wie Putnam meint) der Wissenschaft inhärent ist, müsste sich sowohl die Forschung als auch die Schreibdidaktik zumindest reflexiv dazu verhalten. Vielleicht könnten die Wahrnehmungen und Deutungen des Schreibenden im nächsten Schritt sogar eine eigene Erkenntnisquelle darstellen — sofern sie sich systematisch erschließen lassen. Im Kontext künstlerischer Forschung ist das Verhältnis zur eigenen Subjektivität vielleicht am stärksten etabliert. Dort gibt es durchaus gute Argumente für eine „Einbettung der Erkenntnis in das Erlebnis“ (Krohn, 2012, S. 14) — etwa anhand von Introspektion oder Selbstreflexion:

reflexivity [is] our capacity to turn around on the past and alter the present in its light, or to alter the past in the light of the present. Neither the past nor the present stays fixed in the face of this reflexivity“ (Bruner, 1990, S. 109).

Eine neue Methode der qualitativen Sozialforschung, die auf das Subjektive als eine Quelle für wissenschaftliche Erkenntnis abzielt, und die im internationalen Kontext auch zunehmend in der Schreibberatung eingesetzt wird, stellt die Autoethnografie dar.

Praxis der wissenschaftlichen Schreibdidaktik

Auch in der Beratung zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben stellt die Subjektivität des Forschenden ein wichtiges Moment dar: Schreibbiografien, Perspektivenwechsel, reflexive Schreibaufgaben, Portfolio-Arbeit, Feedback auf Texte und Arbeitsweisen – bei all diesen didaktischen Mitteln steht gerade das schreibende Subjekt im Fokus. Die persönlichen Erfahrungen von Schreiber*innen, deren Lösungsansätze, Strategien und Vorgehensweisen werden dabei als eine wichtige Ressource für die Bearbeitung von Schreibübungen und bei der Entwicklung von Schreibkompetenz begriffen.

Pate dafür stand u.a. die Selbstbeobachtung des eigenen Schreibens, wie sie z.B. der Composition Teacher Donald Murray betrieb und auch die Untersuchungen der Tage- und Arbeitsbücher von Schriftsteller*innen (so z. B. bei Gerd Bräuer und Ulrike Lange) zeigen, dass die Selbstanalyse der eigenen Voraussetzungen und Vorgehensweisen eine bedeutende Rolle für die Verbesserung des eigenen Schreibens spielen kann. Neben dem autobiografischen Schreiben basieren vielfältige Übungen auf dem produktiven Umgang mit der eigenen Subjektivität. Gerade auch für den Kontext wissenschaftlichen Schreibens sind entsprechende Formate etabliert.

Mögliche Beiträge zum Thema

Bereits diese Schlaglichter aus der Praxis der Forschung einerseits und der Praxis der wissenschaftlichen Schreibdidaktik andererseits zeigen aus meiner Sicht, dass ein kritischer Diskurs über Konzepte, Modelle, Methoden und Praktiken zum Umgang der Wissenschaft mit Subjektivität der Forschenden ein wichtiges Feld zur (Weiter-)Entwicklung dieser Disziplin darstellt.

In folgenden Rubriken können Artikel eingereicht werden:

  • Forschungsdiskurs Subjektivität und wissenschaftliches Schreiben
  • Methoden und Techniken des selbstreflexiven Schreibens
  • Erfahrungsberichte und Austausch
  • Rezensionen/Buchempfehlungen

Call for Papers

Unter journal.der.schreibberatung@gmail.com können Sie für die 18. Ausgabe von JoSch ab sofort und bis zum 06.05.2019 Beiträge einreichen:

Inhaltliche Fragen beantworte ich gern; für alle weiteren Fragen steht das Redaktionsteam unter der o.g. Adresse zur Verfügung.

Literatur

  • Agar, M. (1980). The professional stranger. An informal introduction to ethnography (Studies in anthropology). New York: Acad. Press.
  • Bruner, J. S. (1990). Acts of meaning (The Jerusalem-Harvard lectures). Cambridge Mass. u.a.: Harvard Univ. Press.
  • Garz, D. (2012). Zum Stand interpretativer Forschung in den Erziehungswissenschaften – Standorte und Perspektiven. In F. Ackermann (Hrsg.), Qualitatives Forschen in der Erziehungswissenschaft (S. 27-45). Wiesbaden: Springer.
  • Krohn, W. (2012). Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten. In M. Tröndle & J. Warmers (Eds.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst (pp. 1-19). Bielefeld: transcript.
  • Popper, K. R. (1972). Objective knowledge. An evolutionary approach. London: Oxford University Press.
  • Putnam, H. (1981). Reason, truth and history. Cambridge, UK: Cambridge University Press.
  • Reichertz, J. (2015). Die Bedeutung der Subjektivität in der Forschung. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 16 (3), 17.
  • Reinmann, G. & Schmohl, T. (2016). Autoethnografie in der hochschuldidaktischen Forschung. Impact Free, 3 (Juli 2016), 1-6. Zugriff am 16.04.2018. Verfügbar unter http://gabi-reinmann.de/wp-content/uploads/2016/05/Impact-Free-3.pdf
  • Schmohl, T. (2010). Strategien autopersuasiver Einflussnahme, Eberhard Karls Universität Tübingen. Tübingen.