Situiertes Lernen

Die Hochschulbildung steht an der Schwelle einer paradigmatischen Wende hin zum Erfahrungslernen („experiential turn“; Candy & Dunagan, 2016; Schoeller & Thorgeirsdottir, 2019). Diese Aussage mag angesichts der flächendeckenden „Notfalldigitalisierung“ von Hochschullehre (emergency remote teaching) zunächst verwundern. Denn der aktuelle Studienalltag ist geprägt von digitalen Interaktionen in Videokonferenzen, auf Lernmanagementsystemen und der asynchronen Bearbeitungen von Übungsaufgaben vom heimischen Küchentisch aus. Doch Erfahrungslernen ist als übergreifendes Muster auch in vielen digitalen Lehr- und Lernformen inhärent: Erfahrungen werden hier lediglich in den virtuellen Raum verlagert – was die grundsätzlichen Umbruchvorgänge sogar noch beschleunigt (vgl. bspw. Neiske et al., 2021, Vorb.).

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(K)ein Lernen ohne Kontext?

Situiertes Lernen ist das zentrale didaktische Prinzip, mit dem sich diese Umbruchvorgänge analysieren, beschreiben und gestalten lassen. Das Konzept schließt an eine konstruktivistische Auffassung von Bildung an und stellt Bezüge zu Klassikern wie John Dewey, Jean Piaget und Lev Vygotsky her (vgl. Clancey, 1995 für einen Überblick). Ausgangspunkt ist die theoretische Setzung, dass Wissen stets in einem bestimmten Kontext erworben wird und Lernen stets mit der jeweiligen Situation verknüpft ist, in der etwas gelernt wird. Im Fokus dieser Auffassung von Lernen stehen „jene impliziten Lebensereignisse […], welche soziale und situative Erfahrungsinhalte mit entsprechenden biografischen Lernprozessen verbindet“ (Mikula, 2008, S. 60). Dabei werden didaktische Konzepte wie Community of Practice, Guided Participation oder Anchored Instruction aufgeworfen.

Zunehmende Problemorientierung der Hochschulbildung

Wenn Hochschulen heute ihre Lernräume zunehmend für nicht-wissenschaftliche Handlungsfelder öffnen, entstehen neue Resonanzfelder für akademische Bildung: Durch die Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren nicht-wissenschaftlicher Provenienz werden bestehende disziplinäre Ordnungen aufgebrochen und der Weg zu einer transdisziplinären Didaktik frei gemacht (Schmohl & Philipp, 2021).

Daneben bringt der Zustrom von Lernenden aus unterschiedlichen Professionsfeldern vielfältige neue Perspektiven und Erfahrungshorizonte ein, mit der die Hochschulbildung teils erfrischende Impulse erhält und potenziell sogar als „Katalysator für ein neues Lernen“ dienen kann (Lewis & Williams, 1994, S. 5).

Das Konzept des situierten Lernens bildet auch für diese Formen des Lernens einen wichtigen theoretischen Ankerpunkt, die zusammenfassend mit Schlagworten wie Partizipation, Anwendungsbezug und lebensweltliche Orientierung umschrieben werden können. Problemorientierten Lernformen, die die Zusammenarbeit in Lerngemeinschaften ermöglichen und bspw. projektbasiert ausgerichtet sind, kommt damit ein hoher Stellenwert zu.

Was folgt aus dem Situierten Lernen für die Hochschuldidaktik?

Für Hochschullehrende bedeutet die Wende zum Erfahrungslernen zunächst, sich stärker als bisher auf den Kontext, in dem akademisches situiertes Lernen stattfindet, einzustellen. Für dieses Bestreben kann das Konzept einer kontextsensitiven Didaktik stehen. Damit meine ich eine Didaktik, die darauf abzielt, unterschiedliche Vorerfahrungen einer heterogener werdenden Studierendenpopulation als eine Erkenntnisquelle zu nutzen und anhand der diversifizierten Problemsichten Impulse für die Diskussion und Reflexion zu gewinnen. Der Fokus des mit dieser didaktischen Haltung korrespondierenden akademischen Lernkonzepts müsste darauf gesetzt werden, an Bekanntes anzuknüpfen, Beziehungen herzustellen und einen Wissenstransfer anzuregen. Es ließe sich sodann ein Gegenprogramm der einseitigen Fokussierung auf forschend-wissenschaftliche Lernformen entwickeln.

Das Buch

Situiertes Lernen im Studium

Erstaunlich ist vor dem Hintergrund dieser knappen Problembeschreibung, dass das Konzept des situierten Lernens zwar im Diskurs der Hochschulbildung verankert ist, in den letzten Jahren aber vergleichsweise wenig diskutiert wurde. Stattdessen dominiert im Moment eher die Auseinandersetzung mit forschungsorientierten Lernformen — dazu bald mehr in einem weiteren Blogpost… Ist dieser „blinder Fleck“ in der Auseinandersetzung mit Situierung und Erfahrungsbezug womöglich das Symptom einer Diskrepanz von hochschuldidaktischer Reflexion und der aktuellen Wirklichkeit des Lehrens und Lernens im akademischen Kontext?

Der Sammelband Situiertes Lernen im Studium der Reihe TeachingXchange setzt sich mit dieser Frage auseinander. Er untersucht die postulierte Wende zum Erfahrungslernen dabei auf zwei Wegen:

  • anhand theoretischer Reflexionen, die auf eine kritische Einordnung des Konzepts abzielen und
  • anhand von Praxisbeispielen aus unterschiedlichen Fächern, die räumliche und institutionelle Grenzen für experimentelle und explorative Studienmöglichkeiten öffnen.

Wie gewohnt ist das Buch vorab im Open-Access-Format frei verfügbar. Die Printversion kann im Buchhandel erworben werden.

Tobias Schmohl (Hg.)
Situiertes Lernen im Studium
Didaktische Konzepte und Fallbeispiele einer erfahrungsbasierten Hochschullehre  

TeachingXchange, 5 
2021, 284 S., 39,90 €
ISBN 978-3-7639-6052-1
Open-Access hier: http://u.wbv.de/9783763960521

Empfohlene Zitation:

Schmohl, T. (2021). (Hrsg.) Situiertes Lernen im Studium. Didaktische Konzepte und Fallbeispiele einer erfahrungsbasierten Hochschullehre (TeachingXchange, Bd. 5). Bielefeld: wbv media.

Literatur

Candy, S. & Dunagan, J. (2016). The Experiential Turn. Human Futures, (1), 26–29.

Clancey,W. J. (1995). A tutorial on situated learning. In Self, J. (Ed.) Proceedings of the International Conference on Computers and Education (Taiwan).Charlottesville, VA: AACE. 49(70).

Lewis, L. H. & Williams, C. J. (1994). Experiential learning: Past and present. New Directions for Adult and Continuing Education, 1994(62), 5–16.

Mikula, R. (2008). Die Mehrperspektivität des Lernens in der Verortung und Rekonstruktion biografischer Veränderungsprozesse. In R. Egger, R. Mikula, S. Haring, A. Felbinger & A. Pilch-Ortega (Hrsg.), Orte des Lernens (S. 59–72). Wiesbaden: Springer VS.

Neiske, I., Osthushenrich, J., Schaper, N., Trier, U. & Vöing, N. (Hrsg.). (2021, i.Vorb.). Hochschullehre auf Abstand – ein multiperspektivischer Zugang (Hochschulbildung. Lehre und Forschung, Bd. 3). Bielefeld: transcript.

Schmohl, T. & Philipp, T. (Hrsg.). (2021, i. Vorb.). Handbuch Transdisziplinäre Didaktik (Hochschulbildung. Lehre und Forschung, Bd. 1). Bielefeld: transcript.

Schoeller, D. & Thorgeirsdottir, S. (2019). Embodied Critical Thinking: The Experiential Turn and Its Transformative Aspects. philoSOPHIA, 9(1), 92–109.

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