Digitale Hochschulbildung: Warum wir hier nicht weiterkommen

Wir hatten vergangenen Freitag Markus Deimann bei uns zu Gast im HUL-Forschungskolloquium.

Dabei haben wir wieder mal einen neuen Modus ausprobiert: In Anlehnung an das Konzept des flipped classroom haben wir den Vortragsteil in eine Online-Vorbereitung mit Hilfe eines aufgezeichneten Vortrags ausgelagert und die drei Stunden Präsenz dann vollständig zum Austausch genutzt.

Thema war „Bildung in der Digitalität“, wobei speziell Fragen der Hochschulbildung adressiert wurden. Gabi Reinmann hat hier bereits ihre Zusammenfassung der Veranstaltung geschildert und Markus hat hier ein paar Gedanken im Nachgang festgehalten…

Für mich war unsere Diskussion voller neuer Impulse und ich habe einiges davon mitgenommen. Gleichzeitig war sie aber auch symptomatisch dafür, wie Diskurse zur digitalen Bildung häufig ablaufen – oder wie ich sie zumindest wahrnehme: Akteure aus unterschiedlichen Fachrichtungen, mit entsprechend sehr verschiedenartigen disziplinären Prägungen und theoretischen Vorannahmen (i.S. von tacit knowledge – s. Polanyi, 1966) greifen aufgrund einzelner weniger Impulse exemplarisch-selektiv auf, was sie jeweils als resonanzfähig (s. Rosa & Endres, 2016, S. 22) erleben und reagieren darauf anhand eigener Sinnbildung.

Wir waren 11 Personen im Raum – und bereits bei dieser vergleichsweise geringen Anzahl war die Fülle von Themen, die wir in der ersten Stunde andiskutiert hatten, schon beeindruckend: Abgesehen von den „klassischen“ Trendthemen wie OER und Fallbeispielen anhand von MOOCs, digitalen Tools und grassroots-Bewegungen wurden auch die „disruptiven“ Effekte der Digitalisierung auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sowie ihre Folgen in den Blick genommen. Kritisch beäugt wurden der zunehmende Einfluss von IT-Giganten und die Pfadabhängigkeiten, auf die wir angesichts der Entwicklungen aus dem Silicon Valley gesetzt werden. Neben der Analyse bestehender Verhältnisse ging es schnell auch um Zukunftsthemen: Während bei den einen dabei technische Trends wie wearables oder augmented body im Vordergrund standen, leiteten die nächsten über zur Bildungspolitik der FDP. Grundsätzlicher wurde es, als das scholastische Bildungsverständnis angeschnitten wurde – allerdings nur kurz, weil an der Stelle das Radioprogramm vom Vormittag eingestreut werden konnte, in dem ebenfalls interessante Zusammenhänge zur Digitalisierung aufgegriffen worden waren. Man spricht hier auch in Anlehnung an eine sozialwissenschaftliche Terminologie von kommunikativer Polykontexturalität (Schmohl, 2016, 27 ff.)…

Sie kennen das: Bildung, Digitalität, Hochschule – wenn die Begriffe so in den (akademischen) Raum gestellt werden, sind das zunächst einmal catch-all-Konzepte, an die in einem universitären Diskussionskreis irgendwie jeder anschließen und natürlich auch etwas beitragen kann. Ohne konkrete Frage- bzw. Problemstellung franst die Diskussion dann aber schnell aus und beim Versuch, die Fäden wieder zusammenzufügen, verstrickt man sich allzu rasch in Grundsatzfragen nach dem ordnenden „Rahmen“, der „Leitorientierung“ oder dem grundlegenden „Paradigma“.

Da kann es sinnvoll sein, wenn es konkrete Kontexte gibt, in denen das Thema geordneter behandelt wird. Recht bald kamen wir auf die Arbeit des Hochschulforums Digitalisierung zu sprechen – einer vom BMBF geförderten gemeinsame Initiative des Stifterverbandes, des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Das Hochschulforum Digitalisierung ist mit seiner aktuellen Ausrichtung wohl näher dran,an der mit dem Forschungskolloquium fokussierten Thematik „digitale Hochschulbildung“ (im Ganzen! – was für ein Thema… ;-)) als jede andere Einrichtung in Deutschland – nur mit dem Unterschied, dass dort Experten aus den Bildungswissenschaften deutlich in der Minderheit sind. Stattdessen setzt es sich aus Akteuren zusammen, die digitale Hochschulbildung aus ganz unterschiedlichen disziplinären institutionellen Zugängen heraus perspektivieren.

Spätestens hier kann man stutzig werden: Unterscheidet sich das Hochschulforum Digitalisierung denn dann so sehr von den sogenannten Bildungswissenschaften, denen häufig ja vorgehalten wird, sie seien thematisch zerklüftet und würden sich aus disparaten Perspektiven heraus mit einer derartigen Heterogenität an Themen befassen, dass keine einheitliche Leitorientierung mehr sinnvoll möglich sei?[1] Die Antwort ist: nein. Um eine disziplinäre Bestimmung vorzunehmen, ist das bildungswissenschaftliche Feld zumindest aus meiner Sicht deutlich zu stark ausdifferenziert, so dass sich aus der Vielfalt der unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze, ‚kollidierten‘ (Reinmann, 2017, S. 5) Begriffen und zugrunde gelegten Paradigmen kein einheitliches Instrumentarium mehr ableiten lässt.[2]

In einer wissenschaftstheoretischen Terminologie formuliert: Der Versuch, die Bildungswissenschaften anhand aller (!) beteiligten Bezugsdisziplinen zu fundieren, scheitert an der Inkommensurabilität dieser Disziplinen.

Von Inkommensurabilität spricht man in der Wissenschaftstheorie dann, wenn sich zwischen zwei oder mehr wissenschaftlichen Theorien keine gemeinsame Grundlage zur rationalen Verständigung herstellen lässt. Dies ist der Fall, wenn auf unterschiedliche Zusammenhänge referenziert wird und damit keine hinreichende Übereinstimmung der Verweisungszusammenhänge gelingt, die in den verschiedenen fachterminologischen Sprachen zugrunde gelegt werden – dass also keine sinnvolle „Übersetzung“ möglich ist (vgl. bspw. Lueken, 1992, 120-128).[3] Es kommt zum vielfältig-komplex-überlagerten Missverstehen.

Das liegt beispielsweise dann vor, wenn die Orientierungssysteme, die in den jeweiligen Fächern verwendet werden, sich aufgrund der Paradigmen, die sie konstituieren, so stark unterscheiden, dass es problematisch wird, zwischen den Problemen und Lösungen, die sie adressieren, zu vergleichen. Grund dafür ist, dass diese Theorien auf verschiedene Paradigmen (i. Sinne von Kuhn, 1970) aufbauen, was dazu führt, dass die den Gegenstandsbereich beschreibenden Basiskonzepte unterschiedliche Bedeutung haben und daher hinsichtlich ihres Wahrheitswerts nicht vergleichbar sind.

Inkommensurabilität liegt also – allgemeiner gesprochen – dann vor, wenn in den Grundsätzen keine relevanten Gemeinsamkeiten der untersuchten Theorien bestehen: Sind Theorien inkommensurabel, so „behandeln [sie] unterschiedliche Probleme, verwenden verschiedene Methoden, stützen sich auf keine gemeinsamen Beobachtungen und geben den Ausdrücken verschiedene Bedeutungen“ (Lueken, 1992, S. 41).

Ich habe das Gefühl, dass wir in den Bildungswissenschaften häufig, wenn wir über Bildung, Digitalität und Hochschule reden, vor genau diesem Problem stehen.

Der übliche Reflex: Man behilft sich mit dem pragmatischen Versuch, eben keine disziplinäre Orientierung zugrunde zu legen und lediglich die für den begrenzten Umfang einer lokalen Problemstellung sinnvollen Theorien bzw. Instrumente heranzuziehen. Das Problem in diese Richtung aufzulösen, führt allerdings in aller Regel zu einer einseitigen Engführung des Themas und zu einem praxeologischen Verständnis, das den Anforderungen einer generalisierten, fachübergreifenden und theoriegeleiteten Hochschulbildung im Kontext der Digitalisierung aus meiner Sicht nicht genügen kann. Zudem bleibt die Kritik an Einrichtungen wie dem Hochschulforum Digitalisierung sinnlos, solange man sich in der Hochschulbildungsforschung nicht zumindest auf eine Beobachtungsperspektive einigt und sich auf einen Gegenstandsbereich verständigt, der unter den genannten Schlagworten in den Blick genommen werden soll.

Mit anderen Worten geht es darum, theoretische Leitlinien zu finden und festzulegen, die die Hochschulbildungsforschung in ihren Grundlagen normativ orientiert. Die Normen, die hier festgelegt werden sollen, wirken dann als handlungsleitende Maßstäbe in die Praxis zurück – sie bilden den übergeordneten „Kompass“, an dem alle konkreten praktischen Entscheidungen ausgerichtet werden: „Norms form when individuals interact in problem situations that involve uncertainties and choice among alternative modes of action“ (Sherif & Sherif, 1969, S. 201).[4]

Was uns hier aus dem eigenen bildungswissenschaftlichen Forschungsinteresse am diskursiven Austausch zu den genannten Themen weiterhelfen würde, um zielgerichtet über Einheitliches systematisch zu diskutieren und einander dabei auch noch zu verstehen, wäre also eine systematische wissenschaftstheoretische Eingrenzung von Gegenstandsbereich, Fragestellung, Erkenntnisinteresse und definitorische Festlegung der Grundbegriffe der Hochschulbildungsforschung unter Bedingungen der Digitalisierung. Oder kurz: eine forschungsleitende Theorieentwicklung als Gegenprogramm zu den vorherrschenden Tendenzen.

 

Literatur

  • Glaser, E. & Keiner, E. (Hrsg.). (2015). Unscharfe Grenzen – eine Disziplin im Dialog. Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildungswissenschaft, empirische Bildungsforschung (Klinkhardt Forschung, Band 37). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Verfügbar unter https://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783781553880
  • Kuhn, T. S. (1970). The structure of scientific revolutions (2. ed., enlarged). Chicago, Ill.: Chicago Univ. Press.
  • Lueken, G.-L. (1992). Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens (Quaestiones, Bd. 4). Zugl.: Hamburg, Univ., FB Philos. und Sozialwiss., Diss., 1990. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog.
  • Polanyi, M. (1966). The tacit dimension. Chicago, Ill.: Univ. of Chicago Press.
  • Reinmann, G. (2017). Ludwik Flecks Denkstile – ein Kommentar. Impact Free (10), 1-10.
  • Rosa, H. & Endres, W. (2016). Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim: Beltz.
  • Schmohl, T. (2016). Persuasion unter Komplexitätsbedingungen. Ein Beitrag zur Integration von Rhetorik- und Systemtheorie. Wiesbaden: Springer.
  • Sherif, M. & Sherif, C. W. (1969). Social Psychology. New York, NY: Harper & Row.

 

Anmerkungen

[1] Für eine Diagnose des aktuellen Zustands der Bildungswissenschaften könnte man hier exemplarisch auf eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE) aus dem Oktober 2012 verweisen. Unter dem Titel „Unscharfe Grenzen – eine Disziplin im Dialog“ wurde versucht, einzelne der verschiedenen Teildisziplinen, Perspektiven und Zugänge erziehungswissenschaftlicher Disziplinarität darzustellen, die ‚unscharfen Bereichsgrenzen zu klären‘ und die unterschiedlichen wissenschaftlichen Gemeinschaften, die sich mit der Zeit ausdifferenziert haben, wieder miteinander ins Gespräch zu bringen – was letztlich mehr Aufschluss über die Inkommensurabilität bietet als dem Integrationsbemühen Rechnung trägt (vgl. Glaser und Keiner (2015) mit weiterer Lit.).

[2] Entsprechend darf es einen nicht wundern, wenn prominente Bildungstheoretiker wie bspw. Hans-Christoph Koller mit seinem Konzept einer transformatorischen Bildung bei post-modernen Autoren und relativistischen Argumentationsfiguren landen.

[3] Lueken weist darauf hin, dass zur Feststellung von Inkommensurabilität stets eine „Rahmentheorie“ notwendig ist, mit der Theorien oder Paradigmen verglichen und interpretiert werden können: „Wird von zwei Theorien oder Paradigmata behauptet, sie seien inkommensurabel, so heißt das auch, daß eine Übersetzung der einen in die andere nicht bedeutungserhaltend ist. Bevor diese Behauptung aufgestellt werden kann, müssen die beiden Theorien identifiziert, unterschieden und interpretiert werden. Sie werden also in die Rahmentheorie übersetzt, in der dann auch ihre Inkommensurabilität festgestellt wird. In dieser Rahmentheorie sind die übersetzten Theorien im Falle von Inkommensurabilität nicht auf bedeutungserhaltende Weise wechselseitig ineinander übersetzbar“ (Lueken (1992, S. 34)).

[4] Sherif und Sherif (1969, S. 184) formulieren ihre Normendefinition als eine einheitlichen Skala, anhand derer sich für spezifische Situationen angemessene Einstellungen und Verhaltensweisen ableiten lassen. Eine Norm ist demnach „a standard or, better, as a scale consisting of categories that define a range of acceptable attitude and behaviour, and a range of objectionable attitude and behaviour, for members of a social unit, in matters of consequence to that unit“.

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One thought on “Digitale Hochschulbildung: Warum wir hier nicht weiterkommen

  • Gabi Reinmann
    30. Oktober 2017 at 18:04

    „Der Versuch, die Bildungswissenschaften anhand aller (!) beteiligten Bezugsdisziplinen zu fundieren, scheitert an der Inkommensurabilität dieser Disziplinen“. Diesen Satz verstehe ich leider gar nicht: Zunächst einmal wüsste jetzt nicht, wer das fordern würde: also alle – welche denn? – Bezugsdisziplinen für eine „Fundierung“ – inwiefern? – der „Bildungswissenschaften“ – tatsächlich im Plural? – heranzuziehen. Was willst du damit sagen? Wenn von „Bildungswissenschaften“ die Rede ist, dann meint man natürlich verschiedene Wissenschaften, die sich mit Bildung beschäftigen.

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