Sokal 2.0

Von Georg Lind bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass es wohl kürzlich in der Sonderpädagogik einen ganz interessanten Vorgang gab, der mich ein klein wenig an die „Sokal-Affäre“ erinnert: Katja Koch (Rostock) und Stephan Ellinger (Würzburg) hatten zwei Publikationen mit dem Ziel lanciert, eine Debatte um die gängige Wissenschaftspraxis (speziell die Fragwürdigkeit mancher Peer-Reviewing-Verfahren) anzuregen. Erstaunlich, was daraus geworden ist — vielleicht ist der Fall ja symptomatisch für so manchen Reflex in den Bildungswissenschaften und deren aktuelle Situation? … Aber der Reihe nach:

Bereits in der Märzausgabe der „Sonderpädagogischen Förderung  heute“ (3/2016) hatten die beiden Autoren eine Satire veröffentlicht, in der sie idealtypische Qualitätsmerkmale für hochrangige sonderpädagogische Publikationen zugespitzt formulierten (hier der Text).

Auf Grundlage dieser parodistisch entwickelten „Anleitung“ erstellten sie dann kurze Zeit darauf einen wissenschaftlichen Fake-Beitrag, der offenbar ohne größere inhaltliche Rückfragen in der Zeitschrift für Heilpädagogik (ZfH) abgedruckt wurde (s.u.). Der Schwindel flog wohl erst auf, als die Autoren das Editorial Board der ZfH darum baten, eine Auflösung und Exemplifizierung zu publizieren (hier abrufbar)…

Anstelle sich auf einen Abdruck dieser Auflösung einzulassen, haben die Herausgeber sich allerdings zu einer Stellungnahme auf der Webseite der ZfH entschieden:

„Im letzten Heft der Zeitschrift für Heilpädagogik konnten Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Beitrag der Autorin Katja Koch und des Autors Stephan Ellinger zum kleinen KUNO aus KUBA zur Kenntnis nehmen. Das kleine Krokodil gibt es jedoch nicht und die Studie, das Förderprogramm sowie die Evaluationsdaten ebenfalls nicht. Die Autoren informierten die Schriftleitung nach der Veröffentlichung darüber, dass der gesamte Beitrag ein „Fake“ (Originalbegriff Koch/Ellinger), also eine Fälschung, ist. Die gesamte dargestellte Forschung ist frei erfunden.
Wir bedauern das Vorgehen, das aus unserer Sicht mit seriösem wissenschaftlichen Vorgehen unvereinbar ist. Deshalb ziehen wir diesen Beitrag mit großem Bedauern Ihnen gegenüber zurück. Wir werden ihn auch nicht in die Jahresausgabe der Zeitschrift für Heilpädagogik aufnehmen.
Für das Anliegen einer kritischen Diskussion und Reflexion des Wissenschaftsbetriebs der Sonderpädagogik gemäß wissenschaftsethischer Leitlinien bietet die Zeitschrift für Heilpädagogik allen Autorinnen und Autoren selbstverständlich weiterhin den Raum und viele Gelegenheiten.“

Was mit der sog. „Sokal-Kontroverse“ (nachzulesen hier in einem guten ZEIT-Beitrag dazu) Ende der 1990er auf internationalem Parkett zu einer kritischen Auseinandersetzung und kontroversen (aber offenen!) Diskussionen um Qualitätskriterien für die wissenschaftliche Publikationspraxis geführt hat, evoziert im Jahr 2016 hierzulande offenbar einen Rückzug auf den juristischen Vorwurf der „Fälschung“ bzw. das formale Argument der Lesertäuschung…

Ich denke, der Fall verdient es zumindest, eine Diskussion darüber anzustoßen, wie wir in den Bildungswissenschaften insgesamt damit umgehen können, dass wissenschaftliche Beiträge eben häufig auch in angesehenen Zeitschriften nicht ausschließlich sog. „Qualitätsbeiträge“ sind. Oder — vorsichtiger formuliert: Vielleicht lohnt es sich, den „Fall Koch/Ellinger“ als ein Exempel dafür zu begreifen, dass die „wissenschaftliche Güte“ eines Textbeitrags wohl nicht zuverlässig und schon gar nicht automatisch durch den „Impact-Rang“ oder die formal eingerichteten Mechanismen der Qualitätssicherung (anonyme Begutachtung, Peer Review-Verfahren etc.) sichergestellt ist.

Georg Lind (E-Mail-Kontakt) leitet übrigens aus seiner Analyse des Falls ein paar m.E. sehr sinnvolle Vorschläge für die wissenschaftliche Publikationspraxis in Journals allgemein ab, die ich hier mit seinem Einverständnis in leicht gekürzter Form wiedergeben möchte:

  • „Die Namen der Gutachter sollten veröffentlicht werden, damit zwischen Autor und Gutachter ein Austausch möglich ist. Ich habe das für meine jährlichen Symposien mit Erfolg eingeführt. Alle Beteiligten zeigen sich begeistert von der Möglichkeit, voneinander zu lernen. Die Beiträge gewinnen dadurch an Qualität. Die Programm-Macher bekommen zusätzlich Anhaltspunkte für ihre Entscheidungen.“
  • „Einige oder alle Gutachten sollten zusammen mit dem Beitrag veröffentlicht werden, damit sich die Leser selbst ein Urteil bilden können. Die Schriftleitungen sollten sich nicht länger wie absolutistische Herrscher im Reich der Wissenschaft fühlen.“
  • „Die Zeitschriften sollen ihre eigenen Kriterien für ‚gute‘ Wissenschaft überprüfen. Sie sind nicht selten falsch und wissenschaftsverhindernd. Viele Zeitschriften bestehen noch immer darauf, dass bei empirischen Studien das ‚Signifikanz-Niveau‘ (t-Test. p-Wert, etc.) berichtet wird, und dies, obwohl bereits seit den 1950er Jahren Fachleute dies als groben Unsinn anprangern […].“

 

Literatur

  • Ellinger, S./Koch, K. (2016). Förderung sozial benachteiligter Kinder durch Förderung mathematischer Vorläuferkompetenzen – Evaluation des Programms „Kuno bleibt am Ball“ (KUBA). Zeitschrift für Heilpädagogik (11), S. 513-525.
  • Koch, K./Ellinger, S. (2016). Qualitätsmerkmale hochrangiger Publikationen in der Sonderpädagogik: Zur Effektivität des Evidenzparadogmas – Eine Satire. Sonderpädagogische Förderung heute (3), S. 312-320.

 

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