aufgeschmissen

„Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind“ — mit diesem Zitat des französischen Schriftstellers Romain Gary beginnt ein lesenswerter Feuilleton-Beitrag in der gestrigen FAZ-Ausgabe. Es geht um ein Literaturprojekt des Goethe-Instituts Nancy. Unter dem Titel „Verlorene Avantgarde“ befassen sich auf dessen Initiative hin Gegenwartsautoren aus Frankreich und Deutschland damit, die Biografien einzelner Künstler, die im ersten Weltkrieg gefallen sind, fiktiv fortzuschreiben. Es geht nicht etwa darum, rückblickend zu spekulieren, was wohl geworden wäre, wenn die Geistesgrößen von damals weitergelebt hätten. Vielmehr sollen die fiktiven Fortschreibungen der möglichen Biografien als Hypothesen in die Gegenwart gespiegelt werden.

Solche ‚Uchronien‘, wie man Realitätsfiktionen dieser Art nennt, könnten in bloße Spielerei ausarten. Im Fall der ‚Verlorenen Avantgarde‘ entstand ein Panorama interessanter Werkdeutungen zu den jeweiligen Künstlern über das Todesdatum hinaus.

(Süddeutsche Zeitung vom 12.06.2017)

Auf der Frankfurter Buchmesse im kommenden Herbst sollen die entstandenen Texte zweisprachig publiziert werden. Nun kann man der Meinung sein, dies alles sei allenfalls für Leute mit einem Faible für kulturhistorische Themen von Belang. Beim Lesen des FAZ-Artikels hatte ich aber mehrfach das Gefühl, dass sich einige der Inhalte auch auf den Kontext universitärer Bildung übertragen lassen. Wie das?

Die Avantgarde zeichnete ja aus, dass sie — durchaus theoretisch reflektiert und selbstkritisch — mit den etablierten Normen und Werten brach und dabei häufig provokant, teils polemisch auftrat. Sie ist neben einem historischen Ereignis (oder vielleicht sogar einer Epochenbezeichnung) besonders eine bestimmte Haltung, eine Bewegung, in der die politischen, gesellschaftlichen, ästhetischen Verhältnisse radikal infrage gestellt wurden. Neben dem Aufbruch aus bürgerlichen Klassizismen ist mit dem Begriff also speziell auch eine renegate Grundhaltung gegen das Establishment angesprochen, die sich erst mit dem Weg in die Katastrophe (materialisiert im Ereignis des Weltkriegs) aus einem Subordinationsgefüge emanzipiert:

Die Avantgardisten mussten ein permanentes Sichabarbeiten an etwas, das eingefordert wird, aufbrechen. Es gab aber keine Alternative zu dieser Knechtschaft, es gab nur das Aufbrechen, es gab nur das Durchdrehen. Es gab nur das Gegen-alles-Sein, ohne für etwas sein zu können. Die hörten auch auf, sich selbst richtig ernst zu nehmen. Es gab damals eine Aufgeschmissenheit, die es heute auch gibt.

(Helene Hegemann im genannten FAZ-Beitrag)

Solche radikalen kritischen Haltungen hatten wir in Deutschland das letzte Mal mit der 68er-Bewegung. Die grundlagentheoretischen Beiträge, die in den Folgejahren (späte 60er bis in die frühen 80er hinein) entstanden sind, lesen wir noch heute als wichtige Referenztexte unserer aktuellen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen. In der Präsenzphase meines Master-Moduls „Wissenschaftsforschung“ etwa hatten wir uns letzte Woche u.a. mit den epistemologischen und paradigmatischen Prämissen der Hochschulbildungsforschung auseinandergesetzt — und waren immer wieder bei den Diskursbeiträgen dieser Zeit gelandet.

Ich glaube, es ist diesem besonderen „Spirit“ geschuldet, der zu radikal-systemkritischen Haltungen führt, dass es in den 68ern wie in der Avantgarde einen so heftigen intellektuellen Aufschwung gegeben hatte, von dem wir teilweise noch heute zehren und der zumindest Anlass dafür war, ganze Disziplinen grundlagentheoretisch zu (re)organisieren.

Wenn das stimmt, müssten wir dann nicht eigentlich versuchen, einen solchen „Spirit“ (zumindest was den akademischen Austausch angeht) weiter zu befördern? Es gibt ja durchaus den einen oder die andere, die sich angesichts unserer etablierten und „bewährten“ Haltungen, Einstellungen und Verfahren (gerade im Bereich universitärer Bildung) zunehmend „aufgeschmissen“ fühlen. Vielleicht wäre ein Weg, uns mit diesen kritischen, verkorksten und nervösen Charakteren auseinanderzusetzen, ja, sie als Teil einer neuen Avantgarde zu begreifen? Ich finde Derrida nicht besonders überzeugend, aber was wir bräuchten, wäre dann wohl ein Diskursraum, wie er ihn in seinem Entwurf zur „unbedingten Universität“ beschreibt — ein Raum nämlich, in dem „nichts außer Frage steht“ (Derrida, 2001, S. 45). Also ein Ort, in dem ein grundlegend kritischer Austausch zugelassen und vielleicht sogar befördert wird. Vielleicht kann ja unser neues Konzept eines Diskurskolloquiums sich in diese Richtung entwickeln. Zu wünschen wäre es dem Format aus meiner Sicht sehr.

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